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Chemnitz hat ein Drogenproblem. Und das wird immer massiver. Warum? Und was wird dagegen getan? Marco Henkel hat sich umgehört.
Blutunterlaufene Augen, dauerhaftes Kauen, Nasenbluten - nur einige der Symptome, die man gerade auf den meisten Partys in Chemnitz erkennen kann. Auf den ersten Blick sind das lediglich simple Anzeichen einer lebendigen und feiernden Jugend. Wer die Szenerie etwas länger beobachtet, sieht wie junge Frauen sich beim Tanzen Kokain auf ihrem Handy in die Nase ziehen. Die männlichen Partygänger beobachtet man, wie sie KO-Tropfen ins eigene Getränk mischen. Für alle sichtbar, jeder weiß Bescheid. Kevin Morris, Inhaber von Moe's Bar, hat in seiner Zeit als Barinhaber und DJ in Chemnitz viel gesehen und schlägt dennoch Alarm, weil er beobachtet wie Gäste auf allen Partys “reihenweise umfallen”. Er und andere Kulturbetriebe suchen nun nach Lösungen, aber warum wird das eigentlich genau jetzt als Problem erkannt?
Das Problem an sich ist nicht neu, nur die Dimension wächst gewaltig. Chemnitz wies bekanntermaßen in einer Abwasserstudie 2020 den höchsten Metamphetamin-Wert auf und wurde unrühmlich zur Crystal-Meth-Hauptstadt Europas ernannt. Soziale Veränderungen, geringe Löhne, Probleme im Familienkreis und Perspektivlosigkeit spielen bei dieser Entwicklung ebenso eine Rolle, wie die Nähe zu osteuropäischen Grenzregionen, die mit billiger Ware eine Alternative zur eigenen Lebensrealität bieten.
Pandemie als Beschleuniger
Der rasante Anstieg der Drogennutzung war auch deutschlandweit bereits abzusehen. In den Statistiken der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht findet man eine Verdopplung der Prävalenz illegaler Drogen bei Jugendlichen seit 2011. Konkret heißt das, dass 2011 schon 6% aller deutschen Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren Erfahrungen mit illegalen Drogen gemacht haben - 2020 waren es 12%. Und dann schlitterte die Welt in eine Pandemie ungeahnten Ausmaßes.
Zu diesem Thema haben wir verschiedene Institutionen und Expert:innen befragt und alle äußerten denselben Eindruck: Corona hat dieses Problem in noch unbekannte Dimensionen katapultiert. Isolation, fehlende Vorbilder und Mehrkonsum trafen auf gefährliche und mit Halbwahrheiten gespickte Internetbeiträge, die für viele zur einzigen Informationsquelle wurden. Gelernt wird der Umgang mit Drogen nicht von anderen, sondern im Selbststudium. Drogen die einst bei der Dealer*in des Vertrauens um die Ecke besorgt werden mussten, bestellt man nun mit einem Klick im Internet und kommen mit Über-Nacht-Versand am Folgetag an. Illegales Konsumieren, das eher als Partyelement verstanden wurde, wurde zur täglichen Normalität auf dem Wohnzimmertisch. Und genau diese Normalität wird jetzt auch in der Öffentlichkeit ausgelebt.
Safer-Clubbing-Teams unterwegs
Die ehrenamtlichen Projektbetreuer*innen vom Safer-Clubbing-Team RauschzuSTAND sehen darin allerdings eine Chance zur Aufklärung. Sie sind seit vielen Jahren direkt an den Jugendlichen dran und betreiben auf Partys und Festivals mobile Informationstände. Sie lehnen ein noch strikteres Drogenverbot ab, weil es die Jugendlichen wieder in ihre privaten Räume treibt, wo man sie nicht erreichen kann. Vielmehr wissen Sie um die Effektivität der offenen Kommunikation und bekämpfen die anhaltende Tabuisierung und Stigmatisierung: “Man redet nicht über das Thema - hat man in Chemnitz auch noch nie. Wir konnten zuerst nicht mal ein Bankkonto eröffnen, weil wir selbst als Berührungspunkt zu dem Thema als unangenehm wahrgenommen werden.”
Das Projekt RauschzuSTAND ist ein niedrigschwelliges und freiwilliges Angebot. Sie zwingen sich nicht auf, aber stehen mit einem Teller Obst und Infomaterial im Club bereit. Die Effekte und Folgen der Drogen werden dabei ebenso thematisiert, wie die richtige Dosierung. “Die Drogen werden auch ohne uns genutzt, also sollte die Mindestanforderung sein, erstmal dafür zu sorgen, dass niemand Schaden nimmt. So kommen wir auch ins Gespräch. Es ist wichtig eine Vertrauensbasis aufzubauen und das erreicht man durch Gespräche auf Augenhöhe. Leicht widerlegbare Paniksprüche wie “Nimm einmal Drogen und du bist sofort süchtig!” braucht man da nicht zu bringen. Dabei verlierst du Glaubwürdigkeit und schaffst es auch nicht, mit den Konsumierenden im Gespräch zu bleiben.” Erst mit dieser Gesprächsgrundlage schafft man wirklich Zugang und Möglichkeit zur Aufklärung. Was begünstigt Sucht? Was ist eigentlich in deinen Drogen? Wie erging es dir, als du deinen Kumpel bei der Überdosis zusehen musstest?
Frühe Aufklärung notwendig
Die Situation beginnt und endet natürlich aber nicht auf der Tanzfläche. Susann Bunzel, Teamkoordinatorin der Werkstatt Konsumkompetenz beim Inpeos e.V., beschäftigt sich vor allem mit den Weiterbildungs- und Projektangeboten für Schulen. Sie weiß, dass der Grund für diese Situation viel früher zu suchen ist. Dabei helfen allerdings 90-minütige Anti-Drogen-Informationsveranstaltungen nur wenig.
Auch hier sind wieder offene Kommunikation und eine Vertrauensbasis gefragt. “Wir begleiten Schulen auf viele verschiedene Arten, aber das Effektivste ist ein Kompetenztraining ab der ersten Klasse. Es ist wichtig, bereits früh zu vermitteln, wie mit Problemen und Konflikten vielfältig umgegangen werden kann und Kindern eine vertrauensvolle Ansprechpartner*in zu sein. Das bietet später Alternativen zum Drogenkonsum.” Das sei aber natürlich auch ein Thema des Umfeldes. Eltern und Lehrer*innen spielen dabei eine große Rolle und es sei bereits viel getan, wenn alle Lehrer*innen Verantwortung für das Wohlbefinden ihrer Schüler übernehmen.
Kollektives Schweigen
Außerhalb der wenigen themenbezogenen Initiativen und Jugendeinrichtungen, die man in Chemnitz dazu finden kann, herrscht allerdings kollektives Schweigen. Niemand will das Thema ansprechen und eine gewisse Lethargie scheint sich breitgemacht zu haben. Es wirkt, als hätte man versucht, ganz fest die Augen zu schließen und sich das Thema wegzuwünschen. Laut Susann Bunzel gab es seit 2020 keinen Presseartikel zur einzigen Chemnitzer Institution, die sich mit Suchtprävention an Schulen beschäftigt. Und auch die Vertreter*innen von RauschzuSTAND können sich an keine Presseanfrage über Drogenkonsum in der Partyszene erinnern. Einige Clubbesitzer*innen lehnten Aufklärungsangebote ab, weil man nicht auf Drogen hinweisen will und bei der Lokalpolitik verkümmert Suchtprävention zu einem Randpunkt im Parteiprogramm, der in den letzten Jahren keine nennenswerten Maßnahmen nach sich gezogen hat.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es allerdings: Die Stadt Chemnitz arbeitet bereits an der Durchführung einer Studie mit RauschzuSTAND, um diese Art von Angeboten mehr Nachtlokalen zur Verfügung zu stellen. Jetzt müssen wir es nur noch schaffen, gemeinsam und offen über die aktuelle Situation in unserer Stadt zu reden. Dann finden wir vermutlich auch weitere Möglichkeiten, wie Aufklärung und Prävention effektiver gestaltet werden kann.
facebook.com/rauschzustandchemnitz
Text: Marco Henkel Foto: Adobe / BRN Pixel, inpoes eV
Umfragebox:
Du hast relevante Erfahrungen? Dann lass uns reden!
Wir suchen (anonyme) Eindrücke zum allgemeinen Drogenkonsum bei Jugendlichen & jungen Erwachsenen und wollen allen in der Stadt zeigen, wie ihr die Situation wahrnehmt. Beschäftigt euch das Thema?
Hier gehts zur Meinungsbox: www.umfrageonline.com/c/edm3cmbm
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