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Zum Sommeranfang, wo sich Menschen vielfach pärchenweise auf öffentlichen Wiesen stapeln, liegt für Singles die Idee nahe, sich mithilfe moderner Technik auch mal zu zweit zu treffen. Doch bei Tinder, hörten wir, gibt's in Chemnitz ja sowieso nur Menschen, die man kennt. Also schauten wir mal nach.
So ein schönes Sommerthema, dachten wir uns in der Redaktion. Ganz schlimme Idee, meinen wir jetzt. Aber von vorn: Meine Freundin und ich melden uns im 371-Selbsttest bei der Dating-App Tinder an. Ist nicht schlimm, 48% der Nutzer, so sagen Studien, sind ohnehin in einer Beziehung.
Am Anfang war das Bild
Wir eröffnen also ein Profil bei Tinder. Das geht nur über Facebook und importiert auch gleich die unvorteilhaftesten Fotos der letzten zehn Jahre. Ich nehme mein Evergreen-Profilbild dazu ein spannendes Set-Foto vom letzten Kurzfilmdreh und mache noch ein total emotionales Selfie (auch eine Kunst für sich, mehr dazu im nächsten Heft). Und dann ist man auch sofort mittendrin und darf Fotos von Frauen im Umkreis sehen. Ich wische nach rechts für "Hui!" und nach links für "Nicht mein Typ". Ich bleiben offen, wische die meisten Kandidatinnen nach rechts, schließlich will ich ein Match, um mal fürs Heft zu fragen, wie das so ist bei Tinder. Denn Chatten darf ich nur mit Mädels, die mich auch ganz gut finden. Zumindest mein Foto. Denn viel mehr gibt's bei Tinder nicht: Foto, Foto, Foto, wischen, wischen, wischen.
"Die Kriterien werden immer gemeiner, das Wegwischen fällt leichter."
Frauen haben es leicht bei Tinder. Die Männer sind klar in der Überzahl, Damenwahl heißt die Maxime. Da ich das schon ahnte, habe ich mir nur so mittelviel Mühe gegeben, auf Body-Pics verzichtet und alte Facebook-Profilbilder zweitverwertet. Auf das Stellen des Selfies hab ich verzichtet. Alter und Umkreis habe ich eng begrenzt und doch war der Gesichterwust, der sich mir offenbarte enorm. Bei jeder Anmeldung kamen 20 neue Profile und die Zahl nahm einfach kein Ende. Da es allein das Aussehen als Anhaltspunkt gibt, muss zwangsweise danach sortiert werden: Komischer Bart, Basecap, Tierkinder im Profil, Name erinnert an seltsamen Typen in der Grundschule – die Kriterien werden immer gemeiner, das Wegwischen fällt leichter. Im Schnitt habe ich nur jedem neunten Profil eine Chance gegeben – einzig aufgrund des Überangebots und der zunehmenden Biestigkeit, die mich während der Wischerei befiel.
Ein schales Gefühl blieb nach jedem Wisch-Exzess. Während man sich selbst stets um Individualität bemüht, mit der Prämisse aufwuchs, die Menschen nach ihren inneren Werten zu beurteilen, so steht dem mit Tinder das Prinzip der gelebten Oberflächlichkeit gegenüber. Beurteilt wird auf den ersten Blick, entweder das Bild überzeugt oder nicht. Begleittexte sind pillepalle – liest eh keiner, und wenn doch? Wayne – an einem Satz kann man eh niemanden beurteilen, im Gegenteil: meist hagelte es noch zusätzliche Ausschlusskriterien.
Nach den ersten 15 Minuten ist für mich der Spaß vorbei. Keine weiteren Mitglieder im Umkreis von 25 Kilometern. Ich erhöhe auf 35 und bekomme nochmal zehn Bilder. Dann ist für eine Weile Ruhe. In den folgenden Tagen wird mir Tinder immer mal wieder fünf bis zehn Vorschläge nachliefern. Ich ahne, dass da seitens der App gehaushaltet wird, denn gerade frisch angemeldet sind die „Neuen“, wie ich von einer Bekannten erfahre, nicht. Apropos Bekannte: Dass man in Chemnitz nur Menschen findet, die man kennt oder zumindest schonmal gesehen hat, kann ich nicht bestätigen. Es waren bei Tinder genau zwei Frauen.
Bei Lovoo der größten Deutschen Dating-App, made in Dresden, sah das nicht anders aus. Wieder nur zwei bekannte Gesichter. Dafür finde ich bei Lovoo viel mehr Vorschläge zum Wischen. Jeden Tag habe ich ein kostenloses Kontingent. Etwa 30 Minuten braucht man, um dieses abzuarbeiten. Danach bin ich jedes Mal erleichtert. Es wird ab einem gewissen Punkt einfach nur anstrengend. Unterm Fotofilter sehen dann alle gleich aus. Ich merke, dass der wellenförmige IKEA-Spiegel KRABB als Rahmen für jedes zweite Selfie herhalten muss. Variationen mit Hunden sind gern gesehen, Frauen haben fast nie Katzen dabei. Es ist spannend, wie manche ihre Arme derart verrenken können, dass auch das hinterste Tattoo noch ins Foto passt. Wieviel Metall passt in ein Gesicht? Werde ich gerade intolerant?
Leere im Postfach, leere im Kopf
Etwa 90 Prozent der Männer, die ich für gut befand, antworteten mit einem Match. Während mir das im realen Leben den ultimativen Ego-Push bescheren würde, verstärkt der Zuspruch bei Tinder eher den schalen Beigeschmack. Auch weil es meist bei den Matches blieb, zum Chat kam es selten. Und auch dort wird nur mit Wasser gekocht – wie originell kann es denn auch werden, wenn man Menschen kennenlernen will anhand von Fotos mit einer App? Beurteilt wird zwar allein nach Hülle – doch aufgrund des geringen Frauenanteils, wird’s sowieso bei fast jedem Frauenprofil versucht. Einige User zeigen sich emanzipiert und gehen aufrichtig mit ihren Wünschen um. „Bin bis Freitag in Chemnitz“, schreibt einer unter seine Bilder, auf denen er mit seinem Sixpack wirbt. Das ist ehrlich und bestätigt die Vorurteile vieler Frauen. Doch was ist mit den Romantikern, denjenigen die wirklich auf der Suche nach Kontakten sind? Und klar kann ein Chat bei Tinder der Beginn von was ganz großem sein – doch was erzählt man denn dann, wenn jemand nach der Kennenlerngeschichte fragt?
Ich habe inzwischen das Bedürfnis, auf die Straße zu laufen, um Menschen an den Schultern zu packen und sie zu schütteln, nur um zu sehen, ob sie real sind.
Schon nach drei Tagen bleibt mein Tinder-Account stumm. Kaum noch Bilder, gerade ein einziges Match. Ich bin frustriert. Bei Lovoo sehe ich da mehr Bewegung. Etwa, dass wenigstens mein Profil 40 Mal besucht wurde und ich auch 20 Matchanfragen habe. Einige sehe ich später komplett, weil ich sie auch nach „gefällt mir“ wische. Dabei stumpfe ich jedoch zusehends ab. Wischen, wischen, wischen. Ist eh alles egal. Kommunikation kommt dabei nicht zustande. Ich versuche es mal mit einem Anschreiben. Bei Lovoo kann ich das auch ohne Match, sofern die User es nicht blocken. Spannend: Man bietet mir an, diesen Wunsch nach Privatsphäre für 12 Euro zu umgehen. Ich frage bei acht anschreibbaren Frauen nach, die aussehen, als würden sie das 371 lesen. Gebe mich als Autor zu erkennen, und möchte anonym ein paar Fragen stellen. Drei löschen die Nachricht sofort, nur zwei antworten. Richtig reden, am Telefon oder – oh, Schreck – persönlich, wollen sie aber keinesfalls, höchstens über Lovoo schreiben. Dabei sagt das Radar, dass sie höchstens 600 Meter entfernt sind. Die 19-Jährige Nutzerin verrät mir, dass sie nur zum Zeitvertreib da sei und lieber im echten Leben Menschen kennenlernt. Ich habe inzwischen das Bedürfnis, auf die Straße zu laufen, um Menschen an den Schultern zu packen und sie zu schütteln, nur um zu sehen, ob sie real sind. Und ich stelle mir vor, wie frustriert ich erst wäre, wenn ich wirklich Kontakte suchen würde. Dating-Apps sind sicher nichts für Männer mit fragilem Ego. Es baut mich ein wenig auf, dass meine Freundin am anderen Ende der Couch alle zwei Minuten ruft „Schon wieder ein Match!“ und trotzdem bei mir bleibt.
Texte: Michael Chlebusch und Sarah Hofmann
Erschienen im Heft 07/15[nbsp]